Fangen wir doch mal an, das Ganze zu versachlichen. Wir befinden uns rechtlich m.E. in folgender Situation:
Bezeichnung "Bier"
Zusatzstoffe
Das Gemeinschaftsrecht erlaubt bindend diverse Zusatzstoffe für "Bier" [1], besonders viele für alkoholarme und -freie Biere. Derartiges Bier mit Stabilisatoren, Emulgatoren, Ascorbinsäure, Schwefeldioxid, Karamellen, etc. darf in Deutschland gebraut und als "Bier" verkauft werden. Und ich rede nicht von unvermeidbaren Rückständen. Deutsche Gesetze und Verordnungen sehe ich hier überlagert.
Zutaten
Hier gibt es (noch) kein Gemeinschaftsrecht, das mit deutschen Regelungen kollidiert. Ich halte daher die Regelungen des vorläufigen Biergesetzes für anwendbar [2]. Die bayerische Sonderregelung bzgl. des Herstellungsverbots "besonderer Biere" wurde nie aufgehoben [3]. Zwar ist das vorläufige Biergesetz, in dem das Biersteuergesetz aufgegangen ist, per Art. 7 LFRNeuOG aufgehoben. Jedoch werden übergangsweise Regelungen des vorl. Biergesetz gem. § 1 LFRÜG für anwendbar erklärt. Der fast hundert Jahre alte "bayerische Vorbehalt" scheint sich daher erfolgreich ins 21. Jahrhundert geschleppt zu haben. Unglaublich, aber in den Normen sehe ich da keine Lücke. Ähnliche in Baden-Württemberg geltende Regelungen erscheinen mir jedoch aufgehoben. Die Frage ist jedoch in Anlehnung an das einschlägige Urteil des BVerwG von 2005 (3 C 5.04) [3], ob diese ausnahmslose Einschränkung der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG in Bayern überhaupt zulässig ist. Ich sage nein, aber die Ausführung geht mir hier zu weit.
Zum restlichen Deutschland. Das BVerG urteilte insbesondere, dass die Ausnahmeregelung großzügig zu handhaben sei. Das Ermessen der zuständigen Landesbehörden ist damit auf ein Minimum reduziert. Ich zitiere aus dem Urteil (Hervorhebung von mir):
c) Nach § 9 Abs. 7 VorlBierG kann auf Antrag im einzelnen Fall zugelassen werden, dass bei der Bereitung von besonderen Bieren - sowie von Bier, das zur Ausfuhr oder zu wissenschaftlichen Versuchen bestimmt ist - von den Absätzen 1 und 2 abgewichen wird. "Besondere Biere" sind sogenannte Bierspezialitäten, also Biere, bei denen durch Verwendung zusätzlicher Stoffe besondere Geschmackseffekte erzielt werden. In der Entwurfsbegründung heißt es: "Die ... Ausnahmebestimmung soll, soweit sie sich auf die Bereitung 'besonderer Biere' bezieht, die fernere Herstellung sogenannter Spezialitäten ermöglichen, bei der neben den in Abs. 1 (heute: in den Absätzen 1 bis 6) genannten Stoffen die Mitverwendung gewisser anderer Stoffe notwendig ist, die indes zum Ersatze von Malz und Hopfen nicht geeignet und bestimmt sind, sondern diesen Bieren nur hinsichtlich ihres Geschmacks usw. den Charakter besonders gearteter Biere verleihen." (Reichstag, 11. Legislaturperiode, II. Session 1905/06, Drucksache Nr. 10 Anlage 1 Seite 22). Die Vorschrift gestattet damit keine Abweichung in den Grundstoffen der Bierbereitung, sondern nur die Verwendung zusätzlicher Stoffe aus allein geschmacklichen Gründen. Gedacht war vor allem an Biere mit Gewürzzusätzen (sog. Maibiere mit Maikräuterauszug oder sog. Brohain mit Anis, Nelken, Zimt usw.), auch an Joghurtbiere usw. (vgl. Zapf/
Abgezielt werden muss bei der Erteilung der Ausnahmegenehmigung daher auf die Eignung als geschmacksrelevante Zutat. Ich finde das bereits sehr progressiv, wenngleich man natürlich insbesondere in Hinblick auf Rohfrucht hier zu unterschiedlicher Auslegung kommen kann. Die Herausforderung für das BMEL, sollte es sich damit in nächster Zeit beschäftigen, wird insbesondere darin bestehen aus dieser abstrakten Vorgabe des BVerwG eine Verordnung zu stricken, die Zutaten aus geschmacklichen Gründen erlaubt, das Gepansche aber einschränkt. Die Übergänge sind fließend. Weizennrohfrucht ist billiger als Gerstenmalz, aber ist deswegen Witbier Gepansche? Sicher nicht. Aber wie sähe es aus aus mit unvermälzter Gerste im Pils? Oder Maissirup? Wo ist die Grenze von Geschmack zu Kostenreduzierung zu Täuschung? Ich beneide die Mitarbeiter des BMEL nicht um diese Aufgabe.
Aktuelle Lage
Wir haben daher folgende kuriose, etwas überspitz formulierte Situation: Zusatzstoffe ja, Roggen & Co. nur ausnahmsweise oder garnicht. Erstaunlicherweise scheint insbesondere Bayern das in der Praxis lascher zu handhaben, als sie müssten. Ausnahmegenehmigungen sind so großzügig zu handhaben, dass das "Reinheitsgebot" bereits weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Die Lage von Rohfrucht bleibt für mich unklar. Eher: Nein, da Surrogat, obwohl inkonsequent bzgl. zitiertem Urteil BVerwG (Zulassung Invertzuckersirup nach Gärung aus "geschmacklichen Gründen"). Wie dies in etwaigen Genehmigungsverfahren bisher beurteilt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.
Bezeichnung "Bier gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot"
Zusatzstoffe
Hier wird Deutschland durch Gemeinschaftsrecht die Aufrechterhaltung von Verboten zugelassener Zusatzstoffe erlaubt, mit Ausnahme von CO2, das darf immer rein [4]. Dies wurde auch in nationales Recht umgesetzt (ZZulV [5]).
Zutaten
Wie bei "Bier".
Aktuelle Situation
Hier gelten insbesondere die fragwürdigen Regelungen bzw. der Filtrierhilfsmittel weiter. Eine Auflistung im Zutatenverzeichnis ist nicht vorgesehen, da keine Zutat. Also trotz der rigiden Umsetzung der Zusatzstoffe ist im vorgelagertem Herstellungsprozess selbst dann vieles erlaubt, wenn explizit mit deutschem Reinheitsgebot geworben wird. Die Regelungen über Zutaten sind vergleichbar mit der Verkehrsbezeichnung "Bier" und führen damit zu einigen Kuriositäten.
Fazit
Der monierte Sittenverfall, sofern man es damit hält, ist längst eingetreten. Das Gemeinschaftsrecht hat die deutschen Regelungen in Bezug auf Zusatzstoffe bereits stark aufgeweicht, alles nach [1] ist regelmäßig zulässig. Durch Urteil vom BverwG sind auch Verbote bei den Zutaten stark eingeschränkt. Meines Erachtens kann jede Brauerei außerhalb Bayerns einen Sud mit Kirschen, Koriander und Kakao-Nibs als "Bier" in den Verkehr bringen, Versagungsgründe für die Genehmigung sind abseits von Malz- und Hopfensurrogaten für mich nicht erkennbar. Als "Bier gebraut nach dem deutschen Reinheitsgebot" geht dies zwar nicht, in Kraft bleiben aber die fragwürdigen Regelungen über Zucker, Filtrierhilfsmittel und andere Malze im obergärigen Bieren ("Weizenbier gebraut nach deutschem Reinheitsgebot" -> zulässig). Die Lage in Bayern bleibt vorerst restriktiver, gleicht hierbei aber in der Gesamtheit eher einem Kuriositätenkabinett als dem Ingolstädter Reinheitsgebot von 1516.
Insgesamt großes Chaos, aber es bleibt spannend, wie EU und BMEL die Lücken füllen werden. Eine pauschale Unterwerfung der Gattungsbezeichnung "Bier" unter das Reinheitsgebot erscheint anachronistisch und auch aus Sicht des Gesetzgebers bzw. BMEL vom Tisch, da kaum mit Gemeinschaftsrecht und dem Grundgesetz vereinbar. Für mich verdichten sich die Hinweise, dass auf eine Unterscheidung von "Bier" und "Bier gebraut nach deutschem Reinheitsgebot" hingewirkt wird. Wünschenswert wäre im Zuge dessen, dass diese Unterscheidung genutzt wird, um sich vom aktuellen Wischiwaschi zu verabschieden und insbesondere Biere nach RHG stärker und restriktiver zu reglementieren, so dass dort im Wesentlichen das erlaubt wird, was 1516 vorgesehen war. Ich befürchte jedoch, dass dies ironischerweise am Druck der RHG-Verfechter aus Industrie und ihrer Institutionen scheitern könnte, die sich schwerlich vom Weizenbier nach RHG und etablierten Hilfsstoffen trennen möchten.
Ich glaube daher auch, dass ein Ende dieser Diskussion noch lange nicht absehbar ist. Selbst durch die Brauindustrie, die hier noch weitgehend auf einer Linie scheint, wird sich ein Graben ziehen. Das erscheint mir durch bereits geltendes Recht garnicht mehr aufhaltbar, die Diskussion ruht aber zumindest bis das Jubiläum durch ist und wirksam verwertet wurde. Die aktuelle Lage ist für Craftbrauer außerhalb BY eigentlich garnicht so schlecht, wenn man etwas Ellenbogen benutzt und nicht aus Angst vor Repressalien gleich den Rückzieher macht. Perfekt ist die Lage natürlich noch lange nicht, aber in welcher Materie ist sie das schon. Auch muss man ganz klar sagen, dass die Angriffe auf das Reinheitsgebot auch wider besserem Wissen oft aus Gründen des Marketings geführt werden. Diese Anti-Haltung wirkt rotzig und progressiv, das lässt sich beim Thema Craft immer gut verkaufen.
Bitte lasst euch weder von der einen, noch der anderen Argumentationslinie zu stark vereinnahmen.
[1]
https://webgate.ec.europa.eu/sanco_food ... tifier=155
[2] § 1 LFRÜG i.V.m.VorlBierG
[3]
http://www.bverwg.de/entscheidungen/ent ... 5U3C5.04.0
[4]
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/ ... 68&from=EN
[5]
http://www.gesetze-im-internet.de/zzulv ... 00998.html
Gruß
Andy