Der historische Smalltalk Thread

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#51

Beitrag von Commander8x »

Ja, völlig richtig, mein Fehler. Ich meine die Zeit ab ca. 1910. Und den Beginn der Ära "Wissenschaft als Geldberuf".

Gruß Matthias
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#52

Beitrag von §11 »

Commander8x hat geschrieben: Mittwoch 5. Mai 2021, 21:29 Ja, völlig richtig, mein Fehler. Ich meine die Zeit ab ca. 1910. Und den Beginn der Ära "Wissenschaft als Geldberuf".

Gruß Matthias
Ich hab mich wahrscheinlich auch unklar ausgedrückt. Deine Beschreibung des "Gelehrten" deutet ja eher auf den "Geisteswissenschaftler" hin, auf den "fahrenden" Gelehrten, der eben durch die Stundenten am Leben gehalten wurde.

Ich hätte besser schreiben sollen Naturwissenschaftler und Ingenieure. Wie bereits geschrieben hat die angehende Industrialisierung in Bereichen der klassischen Ingenieurswisenschaften einen ungeheuren Anschub geleistet, aber eben euch einen unwahrscheinlichen Bedarf an neuen Ingenieuren und Naturwissenschaftlern erzeugt. Es ist auch die Zeit in der viele Bereiche des täglichen Lebens durch systematische Ansätze aus den Naturwissenschaften zu verbessern gesucht wurden. Zum Beispiel der Beginn des wissenschaftlichen Landbaus.

Gruss

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#53

Beitrag von Commander8x »

Also Fritz Haber war eher kein Geisteswissenschaftler...
Die Mitgliederliste der KWG liest sich schon sehr illuster:

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der ... sellschaft

Aber da müssen wir nicht weiter drauf rumreiten. Mit der Ingenieursausbildung vor 150 Jahren kenne ich mich schlicht nicht aus.

Gruß Matthias
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#54

Beitrag von bwanapombe »

Hier der Link zur Übersetzung der Brauerzunftrollen aus Lübeck in der Fassung von C. Wehrmann 1864

https://docs.google.com/document/d/1kvV ... sp=sharing

Ihr solltet mit dem Link lesen und kommentieren können. Sachdienliche Hinweise zur Verbesserung sind gern gesehen und können per Kommentar im Dokument festgehalten werden. Fragen versuche ich nach bestem Wissen zu beantworten. Zur Steuerung der Erwartungen: Ich habe zwar eine Affinität zum (Mittel-)Niederdeutschen, aber keine Ausbildung, deshalb stelle ich mein Verständnis des Textes zur Diskussion. Desweiteren habe ich bei der Übersetzung versucht Worttreue zu halten, wo sie das Verständnis nicht behindert oder dem entgegensteht.

Wenn es nicht so sehr um die Übersetzung geht, sondern mehr um die Schlüsse aus dem Text, dann am besten direkt hier fragen und diskutieren.

Dirk
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#55

Beitrag von Bilbobreu »

Respekt! Eine sehr schöne Arbeit.
Aber wenigstens war es nicht handschriftlich. Ich hatte vor etwa 20 Jahren mal das Vergnügen Rechtsgutachten zu handschriftlichen Erbpachturkunden aus dem 18. Jhd. zu verfassen. Da haben wir einen professionellen Übersetzer gebraucht, um da Sinn und Verstand rein zu kriegen.
Gruß
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#56

Beitrag von bwanapombe »

Ja, Handschriften sind noch mal eine andere Gewichtsklasse. Das lasse ich auch lieber die Experten machen.

Wenn die Texte von allgemeinem Interesse sind, gibt es ja in der Regel schon historisch-kritische Ausgaben, die alle verfügbaren Handschriften berücksichtigen.

Die Zunftrollen der Brauer lesen sich über weite Strecken wie ein Bußgeldkatalog. Aber es gibt auch Hinweise zum gebrauten Bier, in der ersten Rolle von 1363 z.B. wird für einen Sud eine Schüttung von max. 1 Last = 8 Drömte Malz vorgeschrieben (7 Teile Gersten- und 1 Teil Hafermalz). Wenn man die Last mit 400 l rechnet wären das ungefähr 267 kg Malz. Daraus wurden dann 18 Tonnen Bier. Die Tonne mit 101 l gerechnet also 1818 l Bier.

1462 waren es dann nur noch 6 statt 8 Drömte. Für dienselben 18 Tonnen durfte also nur noch 3/4 der Schüttung eingesetzt werden.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#57

Beitrag von LuedgerLeGrand »

Was ich mich manchmal Frage, Abseits von Schüttung, Würzung (inkl. Hopfen) und Maischeverfahren, was ist die genutzte Hefe in historischen Bieren.

Waren die früher (wann ist früher?) POF+? Ab wann wurde wo POF- gebraut? Ist POF- aus einer Quelle entstanden oder gab es diese Entwicklung unabhängig an verschiedenen Orten? Ich persönlich finde, dass dies geschmacklick der größte Unterschied zwischen verschiedenen S.Cerevisiae-Stämmen ist

Baltische Farmhouse Ale-Hefen sind laut Garshol vorwiegend POF+, dagegen Kveiks immer POF-. Irgendwo hatte ich aufgeschnappt, leider finde ich die Quelle nicht mehr und weiß nicht wie seriös diese war, das Kveiks ein Hybrid aus britischen Ale-Hefen und eine weiteren S.Cerevisiae wäremeliebenden sein. Damit wären Kveiks relativ gesehen vielleicht gar nicht so alt? Spannend finde ich aber, dass in "Zum bäuerlichen Bierbrauen in Mecklenburg" (ein kurzes Manuskript von Karl Baumgarten: 1966) Hefekränze ähnlich zu den skandinavischen erwähnt werden und diese wohl noch am Anfang des 20. Jh. in Meckelnburg genutzt wurden. Sollte noch in der volkskundlichen Sammlung im Schweriner Museum liegen.

Was waren aber die Hefen zur Zeiten der Hanse in Hamburg, Lübeck, Rostock? Ähnlich zu heutigen belgischen Hefen? Ähnlicher zu Kölsch- und Alt-Hefen? Warum liegen die POF- -Hefen räumlich gesehen genau zwischen belgischen und bayrischen (böhmischen) Weißbierhefen? Ich fande Richard Ungers "Beer in the Middle Ages an the Renaissance" total super, aber in der Hinsicht ohne Aussage. Sauer gewordene Biere galten als Fehler (häufig auch in Garshols Blog zu lesen), aber welche Eigenschaften waren gewollt/vorhanden?

Das gleiche Frage ich mich auch bei McGovern und auch bei den praktischen Umsetzungen, welche Art der Hefe genommen wird und wieso. Klar, im Zweifel eine Wildhefe fangen, aber ich gehe davon aus, auch hier wurde schon früh domestiziert. Oder waren es z.B. in Ägypten oder China ganz andere Hefen und nicht S.Cerevisiae? Wie z.B. Pulque mit Zymomonas mobilis (Bakterium) vermentiert wird.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#58

Beitrag von bwanapombe »

Hallo LuedgerLeGrand,

das ist ein Thema, das mich auch sehr interessiert. Denn ich gehe davon aus, dass mit der Hefe das Bier steht und fällt und das Reproduktionen, die auf Authentizität abzielen, sich vor allem mit der Hefe beschäftigen müssen.

Ohne irgendeine Deiner Fragen abschließend beantworten zu können, hier meine Thesen/Fragen dazu.

Bierhefen sind vergleichbar mit Honigbienen ein Produkt der Zucht durch den Menschen. Die Vorläufer der Bierhefen mußten z.B. keine Maltose nutzen können, weil die praktisch in der Natur nicht vorkommt. Deshalb sind unsere Bierhefen auch immernoch glukophil. Glukose und Fruktose kommt in der Natur z.B. in Früchten vor und dort sind die Vorläufer auch zu Hause gewesen. Und auch den anaeroben Stoffwechsel mußten sie erst "lernen", meine ich.

Die heute bekannten und gebräuchlichen Bierhefestämme sind nicht "alt", weil sie vor Einführung der Reinzucht ständig Veränderungen unterlagen. Soll aber nicht heißen, dass man nicht auch Hefe nach Geschmack gezielt ausgewählt hat, z.B. die eigene Hefe verworfen hat, wenn sie "verdorben" war und man eine bessere bekommen konnte. Und natürlich gab es immer unerwünschte Begleiter, so dass das Bier zwar nicht immer, aber doch regelmäßig sauer wurde.

Können wir heute noch über "ausgestorbene" Hefen verfügen? Nur wenn sie uns als archäologischer Fund zur Verfügung steht. Mit der Industriealisierung dürfte da einiges weggekommen sein, jüngeres Beispiel die Mikroorganismen für die Berliner Weiße, die man allerdings in alten Flaschen noch findet. Man könnte aber auch sagen, durch die Veränderungen ist über die Länge der Zeit immer irgendwas weggekommen und etwas neues entstanden.

Ich weiß nicht wieviel z.B. aus der Hansezeit archäologisch gesichert ist. Man hört ja auch von gesunkenen Schiffen oder alten Kellern, in denen Bier gefunden wurde oder dass antikes Bier nachgebraut wurde. Ob die Organismen noch wiederbelebbar waren, weiß ich allerdings nicht.

Was man auch für archäologische oder schriftliche Quellen heranzieht, es sind immer Momentaufnahmen. Das Bier kann damals nicht so statisch gewesen sein, wie wir es heute kennen. Allerdings wurde Bier auch nach Qualitäten und Herkunft unterschieden. Da kann aber auch schon ein Markenbewußtsein im Spiel gewesen sein. Wenn man ein Hamburger oder Einbecker Bier vor sich hatte, wußte man, dass es gut ist, weil es diesen Ruf hatte. Das heißt aber nicht, dass es immer gleichbleibend gewesen sein muß. Es wurde ja gern auch gepanscht, aber das ist noch ein anderes Thema. Manchmal sank auch einfach die Qualität (vorübergehend) aus den verschiedensten Gründen.

Noch kurz zu den Hefekränzen: Mich wundert es nicht, dass die auch in Mecklenburg verbreitet waren, im Gegenteil, mich würde es wundern, wenn die Technologie nicht über den Ostseehandel auch ins Hinterland der Seehäfen gelangt ist. Vielleicht sind sie auch von Mecklenburg erst nach Nordwegen gekommen, oder von ganz woanders her.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#59

Beitrag von bwanapombe »

bwanapombe hat geschrieben: Freitag 7. Mai 2021, 18:26 ...

Aber es gibt auch Hinweise zum gebrauten Bier, in der ersten Rolle von 1363 z.B. wird für einen Sud eine Schüttung von max. 1 Last = 8 Drömte Malz vorgeschrieben (7 Teile Gersten- und 1 Teil Hafermalz). Wenn man die Last mit 400 l rechnet wären das ungefähr 267 kg Malz. Daraus wurden dann 18 Tonnen Bier. Die Tonne mit 101 l gerechnet also 1818 l Bier.

1462 waren es dann nur noch 6 statt 8 Drömte. Für dienselben 18 Tonnen durfte also nur noch 3/4 der Schüttung eingesetzt werden.

Dirk
Das sind übrigens so Stellen, die aufzeigen, dass Bier nicht über lange Zeit gleichbleibend gewesen sein kann. Ein Lübecker im 13. Jh hatte nur noch 3/4 der Schüttung, wie ein Lübecker im 15. Jh.

Hopfenherkunft scheint überhaupt keine Rolle gespielt zu haben. Ich habe aus dieser Zeit noch keine Quelle gesehen, die anzeigt, dass außer der Menge beim Hopfen irgendetwas einen Unterschied machte.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#60

Beitrag von §11 »

Das ist einer der Punkte den ich immer versuche zu erklären wenn ich gefragt werde "wie hat Bier im Mittelalter geschmeckt" (oder sinngemässe Fragen). Bier war nie statisch und das Mittelalter dauerte 1000 Jahre.

Ich hab zwei Bücher die hier den Blick recht schön frei geben. Das eine beschäftigt sich mit Porter in London, das andere mit Guinness. In beiden sind eine Menge Rezepte aus unterschiedlichen Jahren enthalten und es lässt sich wunderbar nachvollziehen wie sich das Bier durch die Jahre verändert. Das sind die nachvollziehbaren Veränderungen. Dazu kommen natürliche Rohstoffe die einer ständigen Veränderung unterliegen. Heute haben wir viele Parameter durch moderne Erungenschaften wie Düngung oder Bewässerung im Griff. Dazu kommt ein globalisiertes Angebot. Wenn die Gerstenernte in Deutschland schlecht ist, hat man, als Beispiel, die Möglichkeit auf Gerste aus Russland zurückzugreifen. Auch die Mälzerei hat sich stark verändert. Zum einen hat man viel neue Erkentnisse was eigentlich beim Mälzen passiert, zum anderen hat man entsprechende Analytik um den Prozess zu überwachen und zu guter Letzt, man hat die Möglichkeit den Prozess zu steuern, in dem man zum Beispiel künstlich kühlt.

Die Hefe wurde ja auch schon angesprochen. Früher ein Lotteriespiel auf Basis von Erfahrung, heute eine Wissenschaft mit Reinzucht. Von der Gärführung ganz zu schweigen. Es dürfte nicht verwunderlich sein das in sehr vielen Gegenden zwischen Sommer- und Winterbier unterschieden wurde.

Dazu kamen "äussere Umstände". Bei schlechten Ernten wurde das Getreide rationiert. Das zeigt sich schön an der Brauordnung der Stadt Grodzisk Wielkopolski (Grätz), die bekannt ist für das 100% Weizenbier. Es gab aber Zeiten da wurde das Bier aus 100% Gerste gebraut, weil der Weizen ins Brot wanderte.

Aber diese Entwicklung ist ja trotz Technik nicht abgeschlossen. Auch heute sind Bierstile lebendig. Sie passen sich ständig den Gegebenheiten und dem Geschmack an. Bestes Beispiel ist die generelle Abnahme der Bittereinheiten im Bier.

Das ist ein Punkt der mir zum Beispiel sauer aufstösst wenn Leute behaupten eine Brauerei mit 400 Jahren oder mehr wäre nicht innovationsfreudig. Ich behaupte einen Betrieb so lange erfolgreich zu führen klappt nur indem man sich ständig neu erfindet. Kleines Gedankenspiel, noch in den 1950er war Dunkles Bier die Hauptsorte in Bayern, ab dann begann das helle Bier zu dominieren, ab Ende der 1970er begann in Bayern das Weissbier seinen Siegeszug und ist seit Mitte der 1990er die aussstossstärkste Sorte.

Gruss

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#61

Beitrag von gulp »

Ich hab zwei Bücher die hier den Blick recht schön frei geben. Das eine beschäftigt sich mit Porter in London, das andere mit Guinness. In beiden sind eine Menge Rezepte aus unterschiedlichen Jahren enthalten und es lässt sich wunderbar nachvollziehen wie sich das Bier durch die Jahre verändert.
Wenn mich nicht alles täuscht ist Porter eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und eines der ersten "Industriebiere" überhaupt. Hat mit dem Mittelalter eher nichts zu tun.

Gruß
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#62

Beitrag von renzbräu »

Mit dem Mittelalter nicht, aber Porter & Stout ist ein schönes Beispiel, wie sich ein Stil entwickelt: Aus Porter wird Stout Porter und heute ist eines der bekanntesten Stouts in Europa schwächer als Porter, dafür gibt es ein Imperial Stout. Statisch ist da nix.
Grüße Johannes

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#63

Beitrag von bwanapombe »

gulp hat geschrieben: Mittwoch 12. Mai 2021, 13:54
Ich hab zwei Bücher die hier den Blick recht schön frei geben. Das eine beschäftigt sich mit Porter in London, das andere mit Guinness. In beiden sind eine Menge Rezepte aus unterschiedlichen Jahren enthalten und es lässt sich wunderbar nachvollziehen wie sich das Bier durch die Jahre verändert.
Wenn mich nicht alles täuscht ist Porter eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und eines der ersten "Industriebiere" überhaupt. Hat mit dem Mittelalter eher nichts zu tun.

Gruß
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Wenn das für die Industriezeit gilt, kann man das für's Mittelalter potenzieren. Denn die Meß- und Kontrollmöglichkeiten sind ja alle erst ein bis zweihundert Jahre alt, wenn überhaupt. Insofern paßt das schon.

Was eine der Ausgangsfragen angeht, könnte vielleicht die Genetik zu Aussagen kommen, mit welchen Hefen man damals rechnen muß und wie die Abhängigkeiten der heutigen Hefen zu früheren sind. Aber viel hört man von dort nicht oder es kommt bei mir nicht an.

Zufällig liegt bei mir hier "Ancient Brews" von Patrick McGovern, vielleicht lerne ich ja dort was darüber, aber irgendwie komme ich damit nicht voran.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#64

Beitrag von §11 »

gulp hat geschrieben: Mittwoch 12. Mai 2021, 13:54
Ich hab zwei Bücher die hier den Blick recht schön frei geben. Das eine beschäftigt sich mit Porter in London, das andere mit Guinness. In beiden sind eine Menge Rezepte aus unterschiedlichen Jahren enthalten und es lässt sich wunderbar nachvollziehen wie sich das Bier durch die Jahre verändert.
Wenn mich nicht alles täuscht ist Porter eine Erfindung des 19. Jahrhunderts und eines der ersten "Industriebiere" überhaupt. Hat mit dem Mittelalter eher nichts zu tun.

Gruß
Peter
Soll nur ein Beispiel sein wie sich Bierstile entwickeln und eben nicht statisch sind.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#65

Beitrag von LuedgerLeGrand »

bwanapombe hat geschrieben: Mittwoch 12. Mai 2021, 10:30 Bierhefen sind vergleichbar mit Honigbienen ein Produkt der Zucht durch den Menschen. Die Vorläufer der Bierhefen mußten z.B. keine Maltose nutzen können, weil die praktisch in der Natur nicht vorkommt. Deshalb sind unsere Bierhefen auch immernoch glukophil. Glukose und Fruktose kommt in der Natur z.B. in Früchten vor und dort sind die Vorläufer auch zu Hause gewesen. Und auch den anaeroben Stoffwechsel mußten sie erst "lernen", meine ich.
Dabei frage ich mich noch, ob dann alle S. Cerevisiae, die "wild" in der Natur in Früchten, Baumrinden etc. gefangen werden und dann Maltose vergären, domestiziert waren und "ausbebüxt" sind? Oder sich schnell an das neue Medium anpassen?
Können wir heute noch über "ausgestorbene" Hefen verfügen? Nur wenn sie uns als archäologischer Fund zur Verfügung steht. Mit der Industriealisierung dürfte da einiges weggekommen sein, jüngeres Beispiel die Mikroorganismen für die Berliner Weiße, die man allerdings in alten Flaschen noch findet. Man könnte aber auch sagen, durch die Veränderungen ist über die Länge der Zeit immer irgendwas weggekommen und etwas neues entstanden.

Ich weiß nicht wieviel z.B. aus der Hansezeit archäologisch gesichert ist. Man hört ja auch von gesunkenen Schiffen oder alten Kellern, in denen Bier gefunden wurde oder dass antikes Bier nachgebraut wurde. Ob die Organismen noch wiederbelebbar waren, weiß ich allerdings nicht.

Was man auch für archäologische oder schriftliche Quellen heranzieht, es sind immer Momentaufnahmen. Das Bier kann damals nicht so statisch gewesen sein, wie wir es heute kennen. Allerdings wurde Bier auch nach Qualitäten und Herkunft unterschieden. Da kann aber auch schon ein Markenbewußtsein im Spiel gewesen sein. Wenn man ein Hamburger oder Einbecker Bier vor sich hatte, wußte man, dass es gut ist, weil es diesen Ruf hatte. Das heißt aber nicht, dass es immer gleichbleibend gewesen sein muß. Es wurde ja gern auch gepanscht, aber das ist noch ein anderes Thema. Manchmal sank auch einfach die Qualität (vorübergehend) aus den verschiedensten Gründen.
Noch kurz zu den Hefekränzen: Mich wundert es nicht, dass die auch in Mecklenburg verbreitet waren, im Gegenteil, mich würde es wundern, wenn die Technologie nicht über den Ostseehandel auch ins Hinterland der Seehäfen gelangt ist. Vielleicht sind sie auch von Mecklenburg erst nach Nordwegen gekommen, oder von ganz woanders her.
Deswegen empfande ich dies auch eine schöne Annekdote, da z.B. Lars Garshol für sein Buch kaum etwas für den deutschsprachigen Raum gefunden hat (wohl aber auch nicht suchte).

Hier wird häufig von Mittelalter gesprochen, ohne es exakt zu definieren. Zwischen dem Mittelalter und der Industrialisierung moderner Prägung lagen noch einige Jahrhunderte. Wann endet das Mittelalter denn? Erfindung des Buchdrucks? Fall Konstantinopels? Entdeckung der neuen Welt durch Kolumbus? Reformation durch Luther und co.?
Ich bin auch der Meinung, das, in irgendeinem anderen Thread, über die mangelnde Reproduzierbarkeit diskutiert wurde, diese stärker gegeben wird, als immer von der ach so dunklen Zeit behauptet wird (ich inkludiere aber Renaissance mal mit). Gerade auch wenn man Unger liest, gehe ich stark davon aus, dass eine starke Reproduzierbarkeit und Trademarks vorhanden sind, auf die man sich verlassen konnte. Warum sollte es auch nicht klappen? Erfahrung, Wiederholung, Anpassung der Maischezusammensetzung an die Rohstoffe, Anpassung des Maischverfahren, all das traue ich den pre-industirellen Brauern zu, sodass ein in gewissen Rahmen definiertes Bier immer heraus kam. Das würde ja auch zu den bäuerlichen Bieren Skandinaviens passen, dass durch fühlen und probieren in regelmäßiges Ergebnis erzielt wird - trotz "unmoderner" Verfahren - und auch das Ziel war/ist. Wenn man nun auch noch davon ausgeht, dass gewerblich in Zünften organisierte Brauer Profis sind, die das im Gegensatz zu Bauern als Tagesgeschäft behandeln, sollte die Qualität dementsprechend noch gleichmäßiger sein.
Wenn das für die Industriezeit gilt, kann man das für's Mittelalter potenzieren. Denn die Meß- und Kontrollmöglichkeiten sind ja alle erst ein bis zweihundert Jahre alt, wenn überhaupt. Insofern paßt das schon.

Was eine der Ausgangsfragen angeht, könnte vielleicht die Genetik zu Aussagen kommen, mit welchen Hefen man damals rechnen muß und wie die Abhängigkeiten der heutigen Hefen zu früheren sind. Aber viel hört man von dort nicht oder es kommt bei mir nicht an.

Zufällig liegt bei mir hier "Ancient Brews" von Patrick McGovern, vielleicht lerne ich ja dort was darüber, aber irgendwie komme ich damit nicht voran.
Leider habe ich darin nichts dazu herauslesen können. Für mich bleibt irgendwie weiterhin POF+- die spannenste Frage, da wilde (oder weniger domestizierte?) Hefen immer "+" sind. Für Berliner Weiße ist die Hefe ja ebenso negativ, war diese das beim Broyhan dann auch?
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#66

Beitrag von flying »

Berliner Weisse Ferment enthielt Brettanomyceten und die sind alles andere als POF -. Nach Franz Schönfeld wurden die Kulturen immer mal mit rheinischen obergärigen Hefen aufgefrischt, damit es nicht zu sauer und phenolisch wurden.
Übrigens ist "Off Flavour" nur da ein Off Flavour wo es nicht zum Biertyp passt. Biertypen ohne phenolische Aromen gab es vermutlich in dem angesprochenen Zeitalter nicht. Von daher ist die Frage obsolet.
Den rheinischen obergärigen Hefen sagt man jedoch eine lange Tradition bis in die Grutbierzeit nach. Um mit Mädesüß, Gagel und co. klarzukommen braucht man nicht noch zusätzlich phenolische Hefearomen...?
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#67

Beitrag von bwanapombe »

LuedgerLeGrand hat geschrieben: Sonntag 16. Mai 2021, 22:01
bwanapombe hat geschrieben: Mittwoch 12. Mai 2021, 10:30 Bierhefen sind vergleichbar mit Honigbienen ein Produkt der Zucht durch den Menschen. Die Vorläufer der Bierhefen mußten z.B. keine Maltose nutzen können, weil die praktisch in der Natur nicht vorkommt. Deshalb sind unsere Bierhefen auch immernoch glukophil. Glukose und Fruktose kommt in der Natur z.B. in Früchten vor und dort sind die Vorläufer auch zu Hause gewesen. Und auch den anaeroben Stoffwechsel mußten sie erst "lernen", meine ich.
Dabei frage ich mich noch, ob dann alle S. Cerevisiae, die "wild" in der Natur in Früchten, Baumrinden etc. gefangen werden und dann Maltose vergären, domestiziert waren und "ausbebüxt" sind? Oder sich schnell an das neue Medium anpassen?

...
Ich mußte noch einmal nachschauen, wo ich das mit der Maltose gelesen hatte: Meußdoerffer/Zarnkow: Das Bier S.20. Da steht, die s. cervesiae "verbesserte" ihre Fähigkeit Maltose nutzen. Also konnten sie es schon, aber offensichtlich nur mit Mühe, weil Maltose einer der seltensten Zucker überhaupt ist.

Ich glaube, wir sehen das heute noch, dass die Hefe den Stoffwechsel umstellt, wenn die Einfachzucker verbraucht sind und dann eine Pause oder mindestens Verlangsamung der Gärung eintritt.

Übrigens ein sehr gutes Buch, leider etwas eingeschränkt, was die Nennung der Quellen angeht. Auch ein Register fehlt. Immerhin kann man noch eine ergänzende Literaturliste herunterladen. Trotzdem kann man das Buch nicht genug empfehlen.

Ob jetzt die "Wildhefen" aus der Bierbrauerei stammen oder umgekehrt. Plausibel ist beides. Ich entsorge ja oft Hefe auf dem Kompost, warum soll die nicht über Insekten verbreitet auch in der Natur überleben können. Andersherum ist die Hefe von Menschen ins Bier gebracht worden, da dürften Insekten nicht so effizient sein wie eine Löffel Honig oder eine handvoll Rosinen.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#68

Beitrag von flying »

Da Bier schon über 5000 Jahren gebraut wird scheint die Spezialisierung mancher Hefen auf Maltose nicht ungewöhnlich. Auch verraten Namen wie Gestner, Hefner, Barmer, Germer auf ganze Heerscharen mittelalterlicher Hefespezialisten die den Jungs den Doppelzucker schmackhaft gemacht haben....
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#69

Beitrag von §11 »

Was in dem Zusammenhang interessant ist, ich hab mal eine ganze Menge historischer Daten mit heutigen Daten verglichen. Insgesamt sind alle Biere heute sehr viel höher vergoren. Das führt dazu das die Einteilung in niedrigen/ mittleren/ hohen VG, die Lintner eingeführt hatte, heute praktisch nutzlos ist, weil selbst ein, für unseren heutigen Verhältnisse, niedrig vergorenes Bier, bei Lintner hoch vergoren wäre.

Ich hab natürlich in erster Linie die Malzqualität und die Maischarbeit im Sinn gehabt, theoretisch wäre aber auch die Hefe in Einflussfaktor.

Cheers

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#70

Beitrag von bwanapombe »

Die Hefen müßten sich demnach neue Zuckerarten erschlossen haben. Ich weiß nicht wie schnell so etwas geht, denke aber das seit Lintner die Fortschritte bei den Rohstoffen, Mälz- und Maischarbeit das größere Potential bieten, zumal mit der Reinzucht die Hefen genetisch ja "eingefroren" sind. Auf der Seite des Potentials fallen mir ein: Neue Getreidesorten, Meßmethoden in der Forschung und in der Brauerei, bessere Mess- und Steuermöglichkeiten. Davor aber und besonders über längere Zeiträume hat sich die Hefe natürlich immer mehr an ihr Medium angepaßt und Hefen, die mehr Zuckerarten verwerten können, sollten sich auch durchgesetzt haben.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#71

Beitrag von renzbräu »

bwanapombe hat geschrieben: Dienstag 18. Mai 2021, 17:55 ... bessere Mess- und Steuermöglichkeiten. Davor aber und besonders über längere Zeiträume hat sich die Hefe natürlich immer mehr an ihr Medium angepaßt und Hefen, die mehr Zuckerarten verwerten können, sollten sich auch durchgesetzt haben.

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Ich habe mal gelesen, dass die SHA vor der Industrialisierung bei etwa 40% gelegen haben soll. Ohne Thermometer, Saccharometer und handgerührt.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#72

Beitrag von bwanapombe »

Das klingt auf jeden Fall glaubhaft und war sicher auch mit einer ordentlichen Schwankungsbreite versehen. Weißt Du, ob das mal nachprüfbar ermittelt worden ist und für welche Zeit?

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#73

Beitrag von renzbräu »

bwanapombe hat geschrieben: Freitag 21. Mai 2021, 10:23 Weißt Du, ob das mal nachprüfbar ermittelt worden ist und für welche Zeit?
So, jetzt find ich die Quelle nicht. Verschiedene Hinweise:

Sandler, Otto: Die Kulmbacher Brauindustrie, Leipzig 1926
Sandler, Brauindustrie, S. 52 hat geschrieben: Von Verzuckerungstemperatur, Vergärungsgrad und was sonst erst die moderne Wissenschaft alles erpobte, hatte man noch keine Ahnung. Zudem kannte ein Teil der Kulmbacher Braumeister in den 60er Jahren (des 19. Jahrhunderts) noch keinen (!) Thermometer, sie bedienten sich zur Feststellung der Temperaturen lediglich der Hand. Trotzdem waren die Biere meist von gutem Aussehen, tadelloser Haltbarkeit und pikant im Geschmack. Man muß zugeben, daß erstanliche Leistungen vollbracht wurden.
Auch Kochzeiten von 5-6 Stunden (Sandler; auch Olberg, Moderne Braumethoden, 1927, S. 78f.) und Stammwürze um die 16% sprechen für eine schlechte Ausbeute.
Auch hier wieder die Problemanzeige: Die Literatur ist mindestens 70 Jahre jünger als die Zeit über die sie berichtet.
Grüße Johannes

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#74

Beitrag von flying »

Auch Kochzeiten von 5-6 Stunden....
..waren keine Seltenheit, weil man die Rauchgase oft unter Malzdarren leitete und somit 2 Fliegen mit einer Klappe schlug. Auch hat man angeschwänzt bis zum letzten Zuckermolekül und musste die dünne Würze dann wieder eindampfen.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#75

Beitrag von emjay2812 »

Interessant ist auch immer die Jahreszahl, mit der Brauereien ihre Gründung angeben.
Manch uralt (z. B. Andechser), viele aus dem 18. Jahrhundert und sehr viele aus dem 19. Jahrhundert.
Was hat sich den brautechnisch bereits im 18. Jahrhundert abgespielt. Die richtige Industrialisierung begann meines Wissens
nach später - oder irre ich da?
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#76

Beitrag von bwanapombe »

Da muß man mal genauer fragen, die Industrialisierung wovon? Des Brauwesen speziell, der Wirtschaft allgemein und was kennzeichnet eine Industriealisierung?

Im Brauwesen würde ich wie überhaupt für Industrie die ersten Anzeichen in England sehen 18 Jh. Beim bayrischen Brauwesen würde ich Anfang 19 Jh. ansetzen. Die früheren Gründungen sind sicher vorindustriell.

Kennzeichne einer industriellen Produktion sind für eine Brauerei auch ein gewisser Mechanisierungsgrad (Dampfmaschine, Pumpen, Kältemaschine etc.) und eine gewisse Effienzorientierung sowie wissenschaftlich basierte Methoden in der Produktionssteuerung (z.B. Thermometer, Bierspindel)

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#77

Beitrag von §11 »

emjay2812 hat geschrieben: Freitag 21. Mai 2021, 19:18 Interessant ist auch immer die Jahreszahl, mit der Brauereien ihre Gründung angeben.
Manch uralt (z. B. Andechser), viele aus dem 18. Jahrhundert und sehr viele aus dem 19. Jahrhundert.
Was hat sich den brautechnisch bereits im 18. Jahrhundert abgespielt. Die richtige Industrialisierung begann meines Wissens
nach später - oder irre ich da?
Die Bierbrauerei hat sich halt schon sehr früh spezialisiert und kommerzialisiert. Während zum Beispiel andere Lebensmittel erst sehr spät in "Betrieben" hergestellt wurden, zum Beispiel Fruchtsaft, haben sich Brauer in einigen Regionen sehr früh spezialisiert. Dazu kommt das sich die Prozesse beim Bierbrauen sehr gut skalieren lassen. Zum Beispiel wird in Lübeck im 17 Jahrhundert eine Brauerei mit 46hl Pfanne beschrieben, das ist auch heute gängig bei kleinen Mittelständlern
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#78

Beitrag von renzbräu »

emjay2812 hat geschrieben: Freitag 21. Mai 2021, 19:18 Interessant ist auch immer die Jahreszahl, mit der Brauereien ihre Gründung angeben.
Manch uralt (z. B. Andechser), viele aus dem 18. Jahrhundert und sehr viele aus dem 19. Jahrhundert.
Was hat sich den brautechnisch bereits im 18. Jahrhundert abgespielt. Die richtige Industrialisierung begann meines Wissens
nach später - oder irre ich da?
Das Braurecht hing in vielen Städten am Bürgerrecht. Nur wer Bürger war, oft musste auch ein Haus besessen werden, durfte das Braurecht ausüben. Diese Ausübung war oft stark reglementiert: Es wurde festgelegt wer, wann wie viel brauen durfte. Die Brauerei und der Ausschank waren Nebenerwerb zum eigentlichen Handwerksberuf.
Auch verlagerte sich das Brauen vom Haus, im Mittelalter, in städtische Kommunbrau- und "Mulz"häuser in den Tätigkeitsbereich städtischer Braumeister und Knechte. Der brauende Bürger durfte Benutzungsgebühr, Löhne, Rohstoffe und Abgaben bezahlen. Die Würze wurde dann in die Keller des brauenden Bürgers gebracht. Häufig in Butten, hohen hölzernen Gefäßen, die wie ein Rucksack auf dem Rücken getragen wurden.

Durch den Aufstieg des Bürgertums , besonders in Folge der französischen Revolution, suchten die brauenden Bürger den Ausstieg aus diesem engen und reglementierten System. So wurden private Mulz- und Brauhäuser errichtet. Dies konnte gemeinschaftlich sein. Auch wurden diese privaten Brauhäuser vermietet. Gleichzeitig wurde das Braurecht immer mehr in Eigenregie ausgeübt. Die alten Handwerksordnungen der Zünfte fielen zugunsten liberaler Gewerbeordnungen weg. Brauerei - und wenig später die Mälzerei - wurden eigenständige Betriebe und Gewerbe.
Waren die Verkehrswege günstig, besonders durch die Anbindung an die Eisenbahn, konnte Bier exportiert werden. Gerade die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war durch den Aufstieg der Brauwirtschaft mit scheinbar unendlichem Wachstum gekennzeichnet, die an der Wende zum 20. Jahrhundert in einer Übersättigung des Marktes endete.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#79

Beitrag von gulp »

flying hat geschrieben: Freitag 21. Mai 2021, 16:57
Auch Kochzeiten von 5-6 Stunden....
..waren keine Seltenheit, weil man die Rauchgase oft unter Malzdarren leitete und somit 2 Fliegen mit einer Klappe schlug. Auch hat man angeschwänzt bis zum letzten Zuckermolekül und musste die dünne Würze dann wieder eindampfen.
Hmm, in Bayern war das anders ich zitiere mich mal selbst:

"Es durften nur Vorderwürzebiere verkauft werden. Die sogenannten Nachbiere waren nicht zum Verkauf bestimmt. Nachbier wurde aus der ersten Auswaschung der Treber gewonnen. Man gab es der armen Landbevölkerung. An die Wirte durfte es lange Zeit nicht verkauft werden. Mit Fall des Regulativs 1865 war aber auch das vorbei."

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Spontangärung: Mythos oder praktikables Verfahren

#80

Beitrag von bwanapombe »

Man hört ja an vielen Stellen immer mal den Begriff Spontangärung. Ich frage mich gerade, welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müßten, damit so etwas funktionieren kann. Ich schließe mal Gärvorgänge aus, bei denen sich die Hefe im Behälter oder anderswo befindet als in der Luft.

Kann Hefe tatsächlich durch die Luft in die Würze gelangen und wenn ja, in welcher Menge/Zeit? Oder braucht es Transporthilfen in Insekten oder würde auch das nicht genügen?

Ihr merkt schon, ich habe grundsätzlich Zweifel, ob es soetwas funktionieren kann, ohne dass größere Mengen an Hefe vorhanden sind und zugesetzt werden.

Für jeden Kommentar, Hinweis, Erhellung jederzeit dankbar,

Dirk
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Re: Spontangärung: Mythos oder praktikables Verfahren

#81

Beitrag von §11 »

bwanapombe hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 15:16 Man hört ja an vielen Stellen immer mal den Begriff Spontangärung. Ich frage mich gerade, welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müßten, damit so etwas funktionieren kann. Ich schließe mal Gärvorgänge aus, bei denen sich die Hefe im Behälter oder anderswo befindet als in der Luft.

Kann Hefe tatsächlich durch die Luft in die Würze gelangen und wenn ja, in welcher Menge/Zeit? Oder braucht es Transporthilfen in Insekten oder würde auch das nicht genügen?

Ihr merkt schon, ich habe grundsätzlich Zweifel, ob es soetwas funktionieren kann, ohne dass größere Mengen an Hefe vorhanden sind und zugesetzt werden.

Für jeden Kommentar, Hinweis, Erhellung jederzeit dankbar,

Dirk
Meiner Meinung nach dürften deine Zweifel berechtigt sein. Schaut man sich die Sauerbierbrauerei in Belgien heute an, ist die alles andere als spontan. Von Sauerbier im Mörtel des Gebäudes bis zur Wiederverwendung des alten Holzes bei Neubauten deuten drauf hin das eine sehr kontrollierte Mikroflora nötig ist. Man darf auch nicht vergessen das nur in der kalten Jahreszeit gebraut wird, wo eben keine Insekten unterwegs sind und nichts blüht.

Gruß

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#82

Beitrag von ggansde »

Moin,
eines unserer Forumsmitglieder, emjay, stellt frisch gemosteten Apfelsaft offen in seinen Keller und hat uns den regionstypischen Fietz mitgebracht. Ein wildvergorener, brettaromatischer Apfelwein. Es kann funktionieren und ist dort wohl auch reproduzierbar.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#83

Beitrag von §11 »

ggansde hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 15:39 Moin,
eines unserer Forumsmitglieder, emjay, stellt frisch gemosteten Apfelsaft offen in seinen Keller und hat uns den regionstypischen Fietz mitgebracht. Ein wildvergorener, brettaromatischer Apfelwein. Es kann funktionieren und ist dort wohl auch reproduzierbar.
VG, Markus
Ich denken auch, wenn der Apfelsaft offen vergärt und das immer in der selben Umgebung (Keller etc.) wird das Ergebnis relativ reproduzierbar. Das zeigen die belgischen Sauerbierbrauer ja auch.

Gruß

Jan
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#84

Beitrag von bwanapombe »

Danke für die Antworten!

Bei den belgischen Spontanvergärern vermutete ich, dass sich die Mikroorganismen in den Behältern befinden. Stimmt also doch nicht?

Und emjays Apfelwein, wie überhaupt, wenn Früchte ins Spiel kommen, ist das ja der natürliche Lebensraum von Wildhefen. Wird der Most gekocht und damit die Hefe erstmal abgetötet, um dann über die Luft wieder eingetragen zu werden?

Bierwürze wurde ja als große Kochgefäße noch rar und teuer waren z.T. auch nicht gekocht. Allerdings kommen mit dem Getreide keine Hefen ins Bier, denn auf Getreide findet Hefe in der Natur nichts Brauchbares. Zumindest habe ich das mal bei Zarnkow/Meußdorffer so gelesen. Getreide bringen Milchsäurebakterien mit, aber keine Hefen.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#85

Beitrag von ggansde »

bwanapombe hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 16:27 Und emjays Apfelwein, wie überhaupt, wenn Früchte ins Spiel kommen, ist das ja der natürliche Lebensraum von Wildhefen. Wird der Most gekocht und damit die Hefe erstmal abgetötet, um dann über die Luft wieder eingetragen zu werden
Valider Punkt.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#86

Beitrag von §11 »

bwanapombe hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 16:27 Danke für die Antworten!

Bei den belgischen Spontanvergärern vermutete ich, dass sich die Mikroorganismen in den Behältern befinden. Stimmt also doch nicht?
Doch, doch. Allerdings gibt es ja auch genug Brauer die die Haupgärung (mit Saccharomyces) nicht in Holzbottichen durchführen. Ich denke man muss unterscheiden zwischen der Gärung mit Saccharomyces und der nachgelagerten Gärung im Foeder.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#87

Beitrag von bwanapombe »

§11 hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 16:38
bwanapombe hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 16:27 Danke für die Antworten!

Bei den belgischen Spontanvergärern vermutete ich, dass sich die Mikroorganismen in den Behältern befinden. Stimmt also doch nicht?
Doch, doch. Allerdings gibt es ja auch genug Brauer die die Haupgärung (mit Saccharomyces) nicht in Holzbottichen durchführen. Ich denke man muss unterscheiden zwischen der Gärung mit Saccharomyces und der nachgelagerten Gärung im Foeder.
Also Hauptgärung würde dann "gestartet" mit Hefe und Nachgärung (mit Milchsäurebakterien) im Foeder "spontan" also im infizierten Gefäß?

Oder Hauptgärung im offenen aber sauberen Behälter spontan?

Dirk
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#88

Beitrag von ggansde »

Am einfachsten verwendet man m.E. einen Blend mit stärkehaltiger Würze. Die Saccharomyces starten und später übernehmen die Lactos und Bretts. Im reserviertem Equipment ist die restliche Bierherstellung auch relativ sicher.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#89

Beitrag von DrFludribusVonZiesel »

Ich dachte auch immer, dass das mehr oder weniger Augenauswischerei ist. Man lässt einfach die Würze abkühlen und ein paar Stunden stehen, dann gibt man sie in Fässer wo die verschiedensten Mikroorganismen angesiedelt sind und nennt das spontane Vergärung. Dem ist aber nicht (immer) so, siehe hier:

http://www.milkthefunk.com/wiki/Spontan ... rmentation
Many Belgian lambic producers thoroughly clean their barrels using hot water/steam, mechanical agitation (such as is seen at Cantillon), and/or burning sulfur [15]; however even the most rigorous cleaning likely does not fully sterilize the barrels. In the case of lambic brewers, the microbes resident in barrels are spontaneous in origin, having been derived from years to decades of use in the brewery without any exposure to pitched cultures and the barrels may serve as a concentrating mechanism for the desired cultures. The role of barrels as an inoculating vessel is unclear as some producers report achieving excellent results in barrels which are new to the brewery and microbially clean.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#90

Beitrag von Commander8x »

Dann werden die Hefen an der Wand wohl sporuliert haben.

Gruß Matthias
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#91

Beitrag von DrFludribusVonZiesel »

Ich möchte hier auch noch eine sehr interessante Seite erwähnen, die zum Thema passt und sich (ua) mit den verlorenen Bieren von Holland beschäftigt. Man findet auch viel Geschichte zu verschiedenen Bierstilen (Flanders Red, Saison uvm.), in diesem Fall halbwegs relevant zu Dirks Frage zur spontanen Vergärung eine kleine Geschichte zu Lambic:
https://lostbeers.com/lambic-the-real-story/#more-282
The spontaneous fermentation seems to have been a characteristic of faro and lambic early on (at least so in texts dating from 1829 and 1834).[7] Once in a while people would also make a brown faro or lambic, or a brown beer at the strength of faro and lambic, and sometimes (according to the 1829 text) these were also fermented spontaneously.
Den Schlagabtausch mit Yvan de Baets fand ich ein bisschen zum schämen, aber durchaus interessant. Davon abgesehen und von der etwas komischen Art des Autors ist das ein verdammt aufschlussreicher Blog wenn man sich für die klassischen Biere Belgiens interessiert.

Edit:

https://lostbeers.com/when-hoegaarden-w ... fermented/
As far as we know, yeast was added to all these white beers, which was common practice anyway. As early as 1533-1534, yeast is mentioned as an ingredient for beer by the city council of Tienen, a town that also produced white beer.[4] There was however one exception: Hoegaarden. In 1829 the Leuven-based doctor of medicine and beer connoisseur Jean-Baptiste Vrancken mentioned that in Hoegaarden, brewers didn’t add yeast. French brewing engineer Georges Lacambre described the same in 1851.[5] An earlier description of brewing in Hoegaarden, from 1762, doesn’t mention yeast either.[6] Does this mean that the white beer of Hoegaarden was similar to lambic? Not really.

In Brussels, lambic is kept in the coolship for quite some time, and several days are allowed for fermentation to kick in. As said, it is only ready for drinking or processing after a few years. Not in Hoegaarden: the white beer there was meant to be consumed fast. It started fermenting quickly, and although fermentation itself was a bit slow, it was still drunk fresh. In summer, it already turned sour after 8 to 10, at best 15 days, after which it was undrinkable. Contrary to lambic, white beer was therefore brewed year-round.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#92

Beitrag von bwanapombe »

ggansde hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 16:36
bwanapombe hat geschrieben: Dienstag 17. August 2021, 16:27 Und emjays Apfelwein, wie überhaupt, wenn Früchte ins Spiel kommen, ist das ja der natürliche Lebensraum von Wildhefen. Wird der Most gekocht und damit die Hefe erstmal abgetötet, um dann über die Luft wieder eingetragen zu werden
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Da habe ich das Fragezeichen vergessen, das war als Frage gedacht: Hat emjay gekocht?

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#93

Beitrag von bwanapombe »

Vielen Dank für alle Beiträge! Sehr erhellend.

Besonders der milkthefunk-Article zeigt, dass das doch schon recht gut untersucht worden ist. Ich nehme mal mit, dass Spontangärung bei mir nicht ohne weiteres funktionieren würde und dass gleichbleibende Ergebnisse auch nach einer langer Vorbereitung der Umgebung nicht zu erwarten sind.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#94

Beitrag von DrFludribusVonZiesel »

Es ist schon möglich, aber sicherlich mit einigen Experimenten und Fehlschlägen verbunden. Im American Sour Beers (und im Wild Brews) gibts ein eigenes Kapitel inkl. Anleitung darüber, hier im Forum gabs auch schon ein paar Vorreiter, die mit Petrischalen rumgelaufen sind und allerlei Zeugs eingefangen haben.

Und letztendlich ist es auch kein Problem, wenn du keine reproduzierbaren Ergebnisse bekommst, das wird bei den Lambicbrauern auch nicht der Fall sein. Du solltest nur halbwegs trinkbare Sachen hinbekommen, wenns zu sauer oder anderweitig zu intensiv ist, kannst du ja immer noch blenden, machen die Gueuzesteker schließlich auch.

Meine persönliche Vorgehensweise wären mehrere Minisude die man an unterschiedlichen Orten inokulieren lässt und den vielversprechendsten benutzt man als Starter. Kann/wird aber auch schief gehen...

Für mich liegt das jedenfalls noch in ferner Zukunft.
Von Mikkeller gibts übrigens viele Spontanvergorene Sachen zum reintrinken.

Edit: und wenn du was trinkbares rausbekommen hast, kannst du ja den Bodensatz für zukünftige Biere benutzen und so zb eine Hauskultur züchten. Manche mögen es auch Terroir nennen.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#95

Beitrag von guenter »

bwanapombe hat geschrieben: Mittwoch 18. August 2021, 14:18 Da habe ich das Fragezeichen vergessen, das war als Frage gedacht: Hat emjay gekocht?
Im Saarland machen wir auch Viez (Apfelwein), da wird nix gekocht - warum auch (soll ja kein Saft werden). Ich denke emjay, ein paar Kilometer weiter, macht das auch so. Hier funktioniert die Spontangärung ohne Probleme. Sauberes arbeiten muss sein.
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#96

Beitrag von bwanapombe »

Klingt interessant. Ungekocht kann ich mir auch die spontane Gärung erklären. Ich nehme an, da kommen von den Früchten genug Hefen u.a. mit. Darauf hätte ich auch Lust.

Dirk
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#97

Beitrag von tinoquell »

Hallo,

also wir waren vor 2 Jahren in der Brauerei Boon, einer der wohl bekanntesten Lambic - Brauereien. Das Gebäude ist eine recht schmucklose, funktionale, neu gebaute "Fabrikhalle" mit viel Edelstahl.
Das Kühlschiff jedoch, steht noch im Rest der vorher dort befindlichen alten Brauerei unter einem verdreckten, spinnenwebbehangenen Wellasbestdach. Die alte Brauerei wurde an dieser Stelle teilweise durch die neue Halle überbaut, auch das Kühlschiff selbst ist neu. Aber der Raum drumherum ist halt noch "original". Es wäre sicher einfacherer gewesen, das komplett zu erneuern.
Natürlich kann es sein, dass hier auch etwas Show dabei ist, aber meine Vorstellung von Spontangärung hat das wirklich sehr beflügelt.
Kühlhaus im Neubau
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Kühlschiff mit Guide
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Keimzelle
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Allerdings, die sagenumwobene Senne, die ja die leckeren Bakterien mitbringen soll, sieht bezüglich Mikroorganismen nicht besonders vertrauenserweckend aus (im Hintergrund :Smile ) ...

Senne
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Grüße
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#98

Beitrag von §11 »

Das Kühlschiff jedoch, steht noch im Rest der vorher dort befindlichen alten Brauerei unter einem verdreckten, spinnenwebbehangenen Wellasbestdach. Die alte Brauerei wurde an dieser Stelle teilweise durch die neue Halle überbaut, auch das Kühlschiff selbst ist neu. Aber der Raum drumherum ist halt noch "original". Es wäre sicher einfacherer gewesen, das komplett zu erneuern.
Genau das meine ich. Ich müsste jetzt die Namen nachschauen, aber ich hab zwei Berichte gelesen über Brauerei- Renovierungen wo genau das beschrieben inkl. das Anrühren des Verputzes mit Lambic, bzw. wurde die Wand mit Lambic besprüht.

Aber die Frage ist doch dann, wie spontan dann diese Spontangärung ist, wenn man noch dazu bedenkt das ja nur in der kalten Jahreszeit, ohne viel Insekten, Polen oder Mikroorganismen in der Luft gebraut wird.

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Re: Der historische Smalltalk Thread

#99

Beitrag von afri »

§11 hat geschrieben: Donnerstag 19. August 2021, 02:22wenn man noch dazu bedenkt das ja nur in der kalten Jahreszeit, ohne viel Insekten, Polen oder Mikroorganismen in der Luft gebraut wird.
Ich bezweifle, dass die Anwesenheit osteuropäischer Menschen einen nennenswerten Einfluss hat :-)
Aber im Ernst, MO hat man doch zu jeder Zeit in der Luft, oder?
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Re: Der historische Smalltalk Thread

#100

Beitrag von §11 »

afri hat geschrieben: Donnerstag 19. August 2021, 21:09
§11 hat geschrieben: Donnerstag 19. August 2021, 02:22wenn man noch dazu bedenkt das ja nur in der kalten Jahreszeit, ohne viel Insekten, Polen oder Mikroorganismen in der Luft gebraut wird.
Ich bezweifle, dass die Anwesenheit osteuropäischer Menschen einen nennenswerten Einfluss hat :-)
Aber im Ernst, MO hat man doch zu jeder Zeit in der Luft, oder?
Achim
Polen auch. Immerhin fliegt die LOT seit 1928 :Wink

Aber im Ernst, man hat im Winter deutlich weniger MO in der Luft. Der Grund ist einfach. Zum einen wächst fast nichts, was heisst es gibt auch viel weniger Biomasse als Nährstoff. Zum anderen sind tiefe Temperaturen suboptimal für das Wachstum der MO. Grob kann man sagen das die meisten MO bei 20-40C wachsen. Es gibt natürlich auch MO die sich bei kälteren Bedingungen vermehren, aber das Wachstum ist dann extrem langsam.
Wachstum eukaryotische MO.jpg
Wachstum eukaryotische MO.jpg (32.07 KiB) 2592 mal betrachtet
Extrem Beispiel, in der Antarktis herschen Bedingungen verlgleichbar mit einer guten Sterilbank

Gruss

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