So, hier ein Bericht über das Seminar.
Über den temperierten Raum (16°C) habe ich ja bereits weiter oben geschrieben. Auch sonst war das Ganze recht groß und professionell aufgezogen: 80 Teilnehmer (es hätten wahrscheinlich sogar noch mehr reingepasst), zentral mitten in der Stadt in einem größeren Veranstaltungsort mit Bühne und Leinwand. Garderobe, Aperitif usw. Nun gut, die Steiermark ist eben vor allem eine Wein- und keine Biergegend. Dauer des Seminars ohne den "Vorspann" mit Getränk ca. 1 1/2 Stunden.
Vortragender war Christian Kraus, der Geschäftsführer über alle Marken der Fa. Riedel (inkl. Spiegelau und Nachtmann). Der eigentlich vorgesehene Firmenleiter Max Riedel war kurzfristig erkrankt.
Zunächst gab es einen Überblick über die Firmengeschichte und die heutige Aufstellung. 1756 gegründet in Böhmen nordöstlich von Prag. Nach dem 2. Weltkrieg Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei und fast ein wenig zufällig die Neuansiedlung in Kufstein/Tirol (Tiroler Glashütte GmbH), um dort eine stillgelegte Glashütte wiederzubeleben. 2004 wurden Spiegelau und Nachtmann in Deutschland übernommen.
In Tirol werden auch heute noch Gläser mundgefertigt, in Deutschland auch viel maschinell. Heute produziert die Firma ca. 60M Gläser p.a.
Das heutige Design der Weingläser mit Kelch, Stiel und Bdenplatte ist offenbar gar nicht mal so alt und besteht erst seit den 50er Jahren. Davor waren die Gläser eher klein und ähnelten betr. Design eher den im Bild sichtbaren Plastikbechern. Auch Römergläser dürfte noch fast jeder kennen. Die Erweiterung der Gläser nach oben erfolgte - typischerweise - nach außen. Heute spricht man eher vom "Weinerlebnis" - was bedeutet, dass dieser nicht nur Begleitung zum Essen ist, sondern geschmacklich besonders herausgestellt und erfahren wird, was wiederum etwas höhere Anforderungen an das Glas stellt.
Das vorgestellte Glasdesign namens "Veloce" beruht zu großen Teilen auf den Schwierigkeiten der Firma, geeigneten Nachwuchs zu finden. Der Beruf des Glasbläsers stirbt langsam aus, und das neue Design basiert auf konsequentem Feintuning der maschinellen Ausrüstung.
Aber nun zur Verkostung, die professionell und straff organisiert geleitet und geführt wurde.
Weine (l.n.r.): Riesling, Chardonnay, Spätburgunder, Merlot
Gläser (l.n.r.): Riesling, Chardonnay, Spätburgunder, Bordeaux
Zunächst wird der Riesling (Probe A) auf Glas 1 (Riesling-Glas) und 2 (Chardonnay-Glas) verteilt und nach Benetzung der Glasinnenseite über "Rollen" und Schwenken des Glases in der Hand jeweils "errochen". Hier fallen schon deutliche Unterschiede auf: im sich nach oben verjüngenden Riesling-Glas 1 nimmt man deutliche und intensive Fruchtaromen wahr, auch etwas Mineralität, im Chardonnay-Glas verlieren sich diese Aromen eindeutig. Dann wird verkostet: aus Glas 1 fließt der Wein zentrisch auf die Zungenspitze und von dort nach hinten. Deutliche und sehr intensive Fruchtaromen werden wahrgenommen. Aus Glas 2 ganz anders: der Wein fließt viel breiter in den Mund, unter die Zunge, und er benetzt auch die Zungenränder viel stärker. Der Wein wirkt etwas säuerlich, auch etwas bitter, und die Fruchtaromen sind deutlich weniger intensiv. Das ist schon mal sehr erstaunlich. Es wird auch auf der Bühne demonstriert, dass bei Trinken aus Glas 1 sich der Kopf automatisch ein wenig nach hinten neigt, was den zentralen Flüssigkeitsstrom nach hinten beschleunigt, während bei Glas 2 der Kopf in einer mehr oder weniger geraden Position verbleibt.
Glas 2 betont also über den breiten Fluss auf die Zungenränder u.a. die Säure stärker (was dem sowieso schon recht sauren Riesling eher weniger bekommt), Glas 1 eher die süßen und (dadurch assoziativ?) die fruchtigen Noten.
Weiter geht es mit dem eichenfassgereiften Chardonnay (Probe B). Im Plastikbecher riecht er etwas holzig. Er wird auf die Gläser 1 (Riesling), 2 (Chardonnay) und 3 (Spätburgunder) verteilt.
Erst wieder erriechen:
Glas 2: schöne Holzfassnoten, Eiche, evtl. Honig. Hier kommen nun die Fassaromen recht deutlich und angenehm zu Geltung - ganz anders als die fruchtigen Noten im Riesling aus dem selben Glas! Erstaunlich!
Glas 1: Geruch wirkt etwas leerer
Dann trinken:
Glas 2: Wein fließt breit in den Mund und dabei auch unter die Zunge. Angenehmer, wärmender, balancierter Eindruck.
Glas 1: Wein fließt wieder zentraler, hat weniger Fülle, dafür mehr Mineralität
Glas 3: der Wein wirkt sauer und etwas leer
Also auch hier wieder deutliche Unterschiede.
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Erzählerischer Einschub: als die Rebsorte Sauvignon Blanc vor einigen Jahren deutlich an Popularität gewann, hat Riedel zeitgleich in Österreich und Neuseeland zwei Veranstaltungen mit zahlreichen Winzern durchgeführt. Dabei wurden von einer hohen Anzahl an verschiedenen Winzern (in NZ über 60) eine hohe Anzahl an Gläsern (in AT knapp 20), auch von anderen Herstellern, durchgetestet. Über Elimination (d.h. nach jeder Verkostung mussten die ungeeignesten Gläser entfernt werden) wurde dabei über mehrere Runden das beste Glas ausgewählt. Sowohl in NZ als auch AT wurde dabei das gleiche Glas ausgesucht!
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Es folgt der Spätburgunder (Probe C). Aus dem Plastikbecher riecht dieser für mich schon etwas tanninig/adstringierend (wie kann das sein??), ansonsten leer und wenig Frucht.
Der Wein wird aufgeteilt auf die Gläser 2 (Chardonnay), 3 (Spätburgunder) und 4 (Bordeaux)
Wieder wird erst "errochen":
Glas 3: Fruchtig, vor allem Kirsche, angenehm
Glas 4: eher langweiliger Geruch
Glas 2: auch eher leerer Geruch
Dann trinken:
Glas 3: schmeckt/riecht nach Holz, Tannin und fruchtig, Wein fließt mittig auf die Zungenspitze, diese hebt sich dabei und bewegt sich leicht nach vorne
Glas 4: Wein hat wenig Fülle, schmeckt "hart" und etwas sauer. Der qualitativ schlechtere Eindruck ist auch insofern bemerkenswert, als dass dieses Glas (oder Bordeaux-Gläser dieser Form generell, da bin ich mir jetzt nicht sicher, wie die Aussage des Referenten gemeint war) das bestverkaufteste Glas (von Riedel?) ist
Glas 2: nochmals etwas saurer durch das "breite" Strömen des Weins in den Mund -> Verstärkung des Säureeindrucks, ähnlich wie beim Test des Rieslings
Also wieder deutliche Unterschiede!
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Nun folgt der Merlot (Probe D) als Vertreter für Bordeaux-artige Weine.
Um ihn zu belüften, wird zunächst die gesamte Probe in Glas 1 gegeben:
Geruch und Geschmack: würzig, etwas alkoholisch, etwas scharf
Verbleibender Wein kommt nun in Glas 2. Wenig Geruch, Wein schmeckt eher unangenehm.
Verbleibender Wein wird nun in Glas 3 überführt. "Pilziger" Geruch, Wein schmeckt etwas bitter.
Nun Glas 4. Geruch wird besser, etwas fruchtig (Waldfrüchte). Beim Trinken breites Einströmen und deutlich mehr Balance.
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Zusammenfassung: es ist relativ eindeutig, dass die Glasform den
ersten Eindruck des Weins signifikant beeinflusst. Die genannten Einflussfaktoren wie Glasform / Randdurchmesser, was beides die Ansammlung flüchtiger Aromen im Kopfraum des Glases und damit die orthonasale Wahrnehmung beeinflusst, sowie das Fließen des Weins in den Mund und die Benetzung der Zunge, was die Wahrnehmung der Grundgeschmäcker über die statistisch leicht unterschiedlich verteilten Geschmackspapillen in unterschiedlichen Zungenbereichen beeinflusst, sind nachvollziehbar und werden zumindest subjektiv bestätigt.
Erstaunlich ist dennoch der subjektiv große qualitative Unterschied im Geschmackseindruck des selben Weines zwischen einzelnen Gläsern. Oft reicht der Eindruck nicht nur von "ein bisschen besser" zu "ein bisschen schlechter", sondern eher von "toller Wein" zu "recht unbalanciert". Das ist durchaus bemerkenswert, obwohl ich die Unterschiede zwischen einzelnen Gläsern auch für Bier kenne.
Auch geruchlich nimmt man die gleichen Weine aus unterschiedlichen Gläsern teilweise sehr unterschiedlich wahr. Auch das kennt man vom Bier.
Ein paar weitere Gedanken dazu:
(folgende zwei Absätze inhaltlich leicht editiert)
Der Referent hob an einer Stelle ganz besonders auf die Wichtigkeit des
ersten Eindrucks des Weines ab. Man solle sich bei Weinverkostungen in Winzereien nicht leiten von Winzern, die einem raten, auf dem Wein "rumzukauen" oder "ihn im Mund von der einen Seite zur anderen fließen zu lassen". Er sagte, er hielte von dieser Praxis gar nichts.
Diesbezüglich überlege ich an dieser Stelle mal laut, ob sich die auch von mir als deutlich wahrgenommenen Unterschiede zwischen den Gläsern tatsächlich vor allem beim
ersten Eindruck des Weins stark auswirken, sich aber mit fortgeschrittenem Trinken mindestens teilweise wieder etwas angleichen. Meine Überlegung bzw. Begründung dafür wäre, dass flüchtige Aromen auch retronasal wahrgenommen werden. Wird also Schluck um Schluck eines Weins genommen, dann reichern sich irgendwann die flüchtigen Aromen im Mund- und Rachenraum an und werden auch bzw. verstärkt retronasal wahrgenommen. Der Wein wird außerdem erwärmt im Mund, was die Aromen leichter austreibt. All das passiert mehr oder weniger unabhängig von der Glasform, aber der Effekt sollte sich zumindest etwas verstärken, wenn man mehr von einem bestimmten Wein trinkt. Ebenso natürlich, wenn man auf dem Wein "rumkaut".
Da das Seminar zügig und straff geführt bzw. geleitet wurde und ich außerdem nebenher noch Notizen gemacht habe, hatte ich keine Zeit, nebenher bzw. während zeitlicher Leerräume noch etwas mehr zu testen, aber ich hatte zumindest ein wenig den Eindruck, dass sich die zunächst geruchlich (orthonasal) sehr unterschiedlichen Eindrücke zwischen den einzelnen Gläsern ein wenig angleichen, wenn man die Gläser länger stehen lässt. Eigentlich kann das ja auch nicht anders sein - ansonsten würden Wettbewerbe und Bewertungen einzelner Weine ständig völlig unterschiedlich ausfallen und wenig Nachvollziehbarkeit aufweisen.
Dennoch bleibt: das Fließverhalten des Weines in den Mund und die Glasform und damit Aromaanreicherung im Glas bleibt ja mehr oder weniger gleich, unabhängig davon, wie lange man trinkt - bzw. unterschiedlich zwsichen unterschiedlichen Gläsern, egal, wie lange man daraus trinkt!
Was auch noch dazukommt: das waren gestern sehr hochwertige Weine, zwischen 23 und 68€ die Flasche. Da kann man aus einem sehr guten Wein vermutlich viel rausholen und ihn andersherum schnell unbalanciert schmecken lassen, aber ob man einen schlechten Wein andersherum durch ein gutes Glas retten kann? Oder einen flachen Wein komplexer machen? Da würde ich doch Zweifel anmelden, aber vielleicht probiere ich es mal aus.

Und zur Subjektivität des Verkostens ganz generell: auch ich als durchaus erfahrener Verkoster von Bier aber eher nicht von Wein bin gerade in einem solchen Szenario sicher nicht davor gefeit, auf die generelle Manipulierbarkeit und Subjektivität des menschlichen Gehirns bei der Aromaempfindung reinzufallen. Bei Wein dann sicher mehr als bei Bier, aber das gilt generell. Wenn man von einem erfahrenen Verkoster also gesagt bekommt, dieser Wein schnmeckt so und so, dann bin auch ich zumindest teilweise geneigt, zuzustimmen. Zur generellen Subjektivität und Manipulierbarkeit des Geschmacksempfindens steht sehr viel in den Büchern von Hanns Hatt und Regine Dee. Zum Beispiel kann sogar die Raumbeleuchtung das Empfinden eines Weins beeinflussen, vom sonstigen Effekten von Set, Setting und Konditionierung nicht zu reden.
Fazit: ich bin sehr froh, dass ich an diesem Seminar teilgenommen habe. Es war sehr eine interessante Erfahrung, und die hochwertigen, aber doch sehr etherischen und zerbrechlich wirkenden Verkostungsgläser werde ich sicher auch für Bier verwenden. Ich bin auch sicher, dass unterschiedliche Gläser das Geschmacksempfinden stark beeinflussen können - andersherum spielen bei der Geschmacksempfindung über die Physik und Physiologie hinausgehende Dinge wie Subjektivität, Manipulierbarkeit sowie die damit verbundenen Begriffe wie Set, Setting und Konditionierung eine große Rolle. Letzteres sollte man gedanklich nie unter den Tisch fallen lassen.
Edit: Text oben bzgl. meiner Gedanken zum Thema "retronasale Wahrnehmung" ein wenig umformuliert, um ein eventuelles Missverständnis (#20/21) auszuräumen