cyme hat geschrieben: ↑Donnerstag 7. Februar 2019, 14:38Mal ganz ehrlich: Wenn Anstellen bei 20ºC ein Garant für ungenießbares Untergäriges wäre, würden das die Hefehersteller nie im Leben empfehlen. Oder welcher Metzger verkauft einem dry age Steaks mit dem Hinweis "unbedingt ganz durchgaren"?
Das denke ich auch. Die Gewinnmarge bei einer einzelnen Hefepackung ist zu gering, als dass es sich lohnen würde, die eine Packung zu verkaufen und den Kunden für die Zukunft zu vergraulen. (Gut, wenn er brav recherchiert, kommt er vielleicht irgendwann wieder.)
Dass die Anstellrate und die Gärtemperatur einen nachweisbaren Einfluss auf das Bier haben, möchte ja keiner bezweifeln. Aber wie bei (fast) allem im Leben gibt es eine gewisse Fehlertoleranz; nicht alles, was suboptimal hergestellt wird, schmeckt deshalb furchtbar. Dieses ständige Geschrei "Alles Murks! Tod den Pfuschern!" hier im Forum ist wirklich ermüdend (in amerikanischen und australischen Foren finde ich den Ton meist entschieden entspannter, nur mal am Rande bemerkt).
Meinetwegen kann ein trainierter Tester herausschmecken, ob das Pils jetzt bei 6, 8, oder 12 Grad angestellt wurde; wenn 95% der Bevölkerung den Unterschied nicht merken, dann ist mir das Latte (sofern ich nicht gerade zu den unglücklichen 5% gehöre). Deshalb haben diese Tests von brulosophy trotz aller methodischen Schwächen durchaus ihre Berechtigung. Dreieckstests mit mehr als 20 Personen führen sonst die wenigsten Hobbybrauer durch. Das "kollektive Wissen" speist sich vornehmlich aus sekundärer Referenz von brauwissenschaftlichen Arbeiten (bei denen zumeist ein ganz anderer Prozess zugrunde liegt), Autorität (Randy Mosher sagt dies, mein Opa, Brauer in 83. Generation, sagt das) und anekdotischer Evidenz, die hier und in anderen Foren wiederholt wird.
Auch wenn es messbare Unterschiede zwischen zwei Bieren gibt, bleibt die Frage "Schmeckt man das wirklich?". Und daran knüpft sich die Frage an, was genau das eigentlich bedeuten soll. Wer ist "man"? Die einen sind sensibler, die anderen weniger, aber auch die gleiche Person kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Wahrnehmungen haben. z.B. mache ich meinen Kaffee jeden Tag nach der gleichen Methode mit der gleichen Menge Kaffee auf die gleiche Menge Wasser (natürlich gibt es geringfügige Abweichungen), und trotzdem gibt es Tage, an denen ich einfach meinen Kaffee trinke, andere Tage, an denen ich denke "Hm, schmeckt irgendwie ein bisschen flach/sauer/whatever", und andere Tage, an denen ich denke "Diese Tasse Kaffee ist das absolut beste, was mir je passiert ist!".
Die Methode mit Dreieckstests, die bei brulosophy angewandt wird, ist relativ simpel und gut umsetzbar: zwei Biere, drei Gläser, immer zwei mal das gleiche und einmal ein anderes Bier (am besten noch durchgemischt, welches Bier zwei mal vorkommt). Der Tester soll herausschmecken, welcher Becher das "einzelne" Exemplar ist. Wenn jemand beim besten Willen keinen Unterschied feststellen kann, soll er einfach raten, was ihm eine Chance von 1/3 verschafft. Die Experimente von brulosophy zeigen: so ein Dreieckstest ist ganz schön schwer, selbst Biere, die messbar
deutlich verschieden sind, werden oftmals von weniger als der Hälfte der Testern identifiziert. Beispielsweise
hier wurde ein helles Lager einmal bei 64 und einmal bei 73 Grad gemaischt, was sich im FG von 1.008 bzw. 1.023 niedergeschlagen hat, also etwa 2 bzw. 6 Grad Plato Restextrakt. Von 33 Testern haben gerade einmal 12 das richtige Bier ausgewählt. Das sind 36%, also mehr, als man bei "zufälligem Raten" erwarten würde, aber nicht viel mehr. Jetzt werden natürlich viele vorschlagen, dass das Bier einfach anderweitige Defekte, Infektionen und weißderTeufelwas alles hatte, sodass der messbare Unterschied maskiert wurde. Oder die Tester hatten einfach alle kurz davor sehr scharfes Chili gegessen. Oder wurden von der Regierung bezahlt. Und warum das alles? Weil es dem allgemeinen Credo "wenig Restextrakt heißt schlank und trocken; viel Restextrakt heißt mastig und süß" zuwider läuft. Weil es darauf hindeutet, dass das Thema also etwas komplexer sein könnte, als dieses Mantra es diktiert. Und, letztlich, weil wir alle natürlich sehr gute Brauer mit sehr ausgefeilten Prozessen und Techniken sind, die in minutiöser Kleinarbeit unser Bier zu dem Meisterwerk machen, das es nun einmal ist, und damit abgrenzen von den Bieren all der Anfänger, die kein vollautomatisiertes Rührwerk haben, das eine homogene Temperaturverteilung an allen 23 Sensoren unseres Maischebottichs gewährleistet.
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